Sibylle, Warendorf
Im Sommer 2022 wurde ich durch einen Zeitungsartikel auf eine Gruppe „Miteinander-Milte“ aufmerksam, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Geflüchtete beim Einleben in unserem Ort zu unterstützen. Es wurde von einem internationalen Frühstück berichtet. Außerdem war man auf der Suche nach ehrenamtlichen Helfern für ein Deutschkurs-Angebot.
Beruflich und privat hatten sich damals Freiräume ergeben, die ich gerne sinnbringend füllen wollte. Als Diplom-Gesangspädagogin ist mir die Arbeit mit Sprache und Stimme gut bekannt. Ebenso bin ich im kreativen Umgang mit Lernprozessen geübt. Aber wie man Deutsch in einer heterogenen Gruppe von Syrerinnen, Irakerinnen und Ukrainerinnen unterrichtet, davon hatte ich keine Ahnung. Frei nach dem Motto „learning by doing“ ging es hochmotiviert in einem Dreierteam mit zwei Abiturientinnen los. Mit einem kleinen Begrüßungslied habe ich mich dann den Kursteilnehmerinnen vorgestellt. Damit war sofort das Eis gebrochen und die Neugierde geweckt. Musik ist international verständlich, das konnte ich an den lächelnden Gesichtern sehen. Der Deutschkurs sollte eigentlich auf die Sommermonate begrenzt bleiben, da die beiden Abiturientinnen sich Ende August ins Studium und in die Ausbildung verabschieden mussten. Da entschied ich allein weiterzumachen, war der Stein doch gerade erst ins Rollen gebracht worden und ich Sprache für gelingende Integration als unverzichtbar erachte. Die Begegnungen mit den Frauen begannen aber auch bei mir zu wirken. Durch ihre Geschichten bekamen die anonymen Berichte aus dem Fernsehen nun ein persönliches Gesicht. Meine Sichten begannen sich zu weiten, meine Wertvorstellungen schärften sich und haben mich zunehmend politischer werden lassen. Für diese Reifung bin ich sehr dankbar!
Zu einer der Kursteilnehmerinnen entstand eine besondere Beziehung. Hevi Abdullah, eine Kurdin aus dem Irak, war im Sommer 2019 mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Deutschland gekommen. Im März 2020 zog die Familie nach Milte. Was für ein Ankommen mit Beginn der Corona-Epidemie – und Hevi war erneut schwanger! Die Kinder gingen soweit möglich zur Grundschule vor Ort und zur Gesamtschule nach Warendorf. Ihr Mann Bakhtiyar bemühte sich umgehend um einen Sprachkurs für Deutsch und musste dazu fünfmal in der Woche nach Münster fahren. Das dritte Mädchen wurde dann im Juli geboren. Während Bakhtiyar inzwischen bei einem örtlichen Betrieb eine Ausbildung zum Anlagetechniker aufnahm und die älteren Mädchen in der Schule Deutsch lernten, blieb Hevi mit der kleinen Mila in der häuslichen Blase zurück.
Inzwischen geht Mila in den Kindergarten und Hevi nutzt ihren Freiraum zum Deutsch lernen. Wir treffen uns dazu je nach Möglichkeit zwei bis dreimal wöchentlich. Eines Tages brachte mir Hevi kurdisches Essen und machte mich damit zur erklärten Freundin. Wir trafen uns fortan auch anderweitig: Wir fuhren Fahrrad. Hevi fehlte es noch an Sicherheit und ich konnte ihr so auch das richtige Verhalten im Verkehr erklären. Ich begleitete sie zu Arztbesuchen, um ihren Mann zu entlasten. Wir haben gemeinsam aus der Fülle meiner Äpfel Mus gekocht und besuchen uns hin und wieder zum Kaffeetrinken. Weihnachten saß die ganze Familie unter meinem Weihnachtsbaum. Es gab kleine Geschenke und wir tauschten uns über Traditionen und religiöse Feste beider Kulturen aus. Ich hätte nicht gedacht, so viele Gemeinsamkeiten zu entdecken! Damit wurde mir auch bewusst, welche Klischees, Vorbehalte und Vorurteile auch in mir schlummern und Brutstätte für rassistisches Denken sein können, welche lediglich von humanistischen und christlichen Werten überlagert werden. So sind diese gemeinsamen Erfahrungen nicht nur schöne Erlebnisse. Sie wirken tiefer und bereichern.
Im. April diesen Jahres hatte ich Hevi mit ihren Mädchen zum Ostereiersuchen zu mir in den Garten eingeladen. Das kannten die Kinder bislang nur aus Erzählungen deutscher Freunde. Die Mädchen waren gespannt und hatten beim Suchen sehr viel Spaß. Gleichzeitig war dieser Tag aber auch der Beginn des Zuckerfestes. Das höchste Fest für Muslime. Dazu war ich nun eingeladen und Hevi hatte fürstlich aufgetischt. Wir verbrachten den Abend mit viel gutem Essen und fröhlichen Spielen in familiärem Miteinander. Beglückt ging ich nach Hause und dachte: Integration ist keine Einbahnstraße!